Sind Verfehlungen des Standes der Technik grob fahrlässig?

Grobe Fahrlässigkeit ist gesetzlich nicht exakt von leichter Fahrlässigkeit abgegrenzt. Darunter wird im Allgemeinen folgendes verstanden:
Ein Handeln, bei dem die erforderliche Sorgfalt in einem ungewöhnlich hohen Maße verletzt worden ist. Ein Verhalten, das einem ordentlichen Menschen in derselben Situation keinesfalls unterlaufen würde.1
Wird bei Verfehlungen des Standes der Technik also die erforderliche Sorgfalt in einem ungewöhnlich hohen Mape verletzt? Unterlaufen Verfehlungen des Standes der Technik keinesfalls ordentlichen Menschen? Angesichts der Tatsache, dass Software zumeist nicht dem Stand der Technik entspricht, könnte man versucht sein zu argumentieren, dass dieser Fehler offensichtlich vielen und somit auch ordentlichen Menschen unterläuft. Dasselbe gilt aber auch für das Überschreiten einer Kreuzung bei Rot - eine Verfehlung die beinahe allen Menschen öfters unterläuft, aber gemäß Judikatur üblicherweise der groben Fahrlässigkeit zuzuordnen ist.2 Nur weil eine Verfehlung beinahe alle begehen, ist sie deshalb nicht leicht fahrlässig.
Andererseits hat eine leichte Verfehlung des Standes der Technik - beispielsweise einzelne Mißachtungen der vereinbarten Naming-Conventions - nur geringfügige Auswirkungen. Selbst ein sehr ordentlicher Mensch, der mit der erforderlichen Sorgfalt unter Verwendung geeigneter Werkzeuge diese geringfügigen Verfehlungen aufdeckt, wird den Einsatz der Software befürworten, um andere, für den Erfolg der Software maßgeblichere Dinge in der Praxis zu erproben. Nicht jede Verfehlung des Standes der Technik ist darum automatisch als fahrlässig bzw. sogar grob fahrlässig zu bewerten.
Ob ein Verstoß gegen den Stand der Technik grob fahrlässig ist, entscheiden zusätzliche Kriterien: Einerseits kommt es auf den durch die Verfehlung potentiell verursachten Schaden an: Die üblichen Verfehlungen des Standes der Technik verursachen potentiell derart hohen Schaden, dass diese zweifelsohne als grob fahrlässig zu bewerten sind:
Je naheliegender, einleuchtender und im Hinblick auf die Schadensabwehr wichtiger die Technik-Regeln sind, desto eher wird eine Missachtung der Regeln den Vorwurf einer groben Fahrlässigkeit rechtfertigen können3
Andererseits - und das ist bei Software beinahe immer der Fall - gilt es auch die Anzahl der Verfehlungen zu betrachten. Einige wenige Mißachtungen der Naming-Conventions sind leicht tolerierbar. Aber wenn sie in großem Umfang missachtet werden, sodass Entwickler sich beispielsweise ständig fragen müssen, ob es sich bei einer Konstante nicht vielleicht doch um eine Variable handelt, dann handelt es sich in Summe wohl um grobe Fahrlässigkeit:
Eine Vielzahl von Nachlässigkeiten und Unvorsichtigkeiten, von denen jede für sich die Gefahr eines Schadens erhöht, kann zur Haftung wegen grober Fahrlässigkeit führen3
Fazit: Man kann also bei Software davon ausgehen, dass üblicherweise die Verfehlung des Standes der Technik als grob Fahrlässig eingeschätzt wird. Eine Verfehlung des Standes der Technik führt also - unabhängig davon was in den Verträgen steht - zu Haftungs- und Gewährleistungsansprüchen.
___
1. vgl. Klaus F. Röhl: Grobe und einfache Fahrlässigkeit. JZ 17, 1974, S. 521 ff bzw. Begriffslexikon der österreichischen Bundesregierung↩
2. vgl. OLG Düsseldorf, I-1 U 255/10 bzw OGH 7 Ob 27/95↩
3 siehe OGH 7Ob46/14m↩
Kommentare
Kommentar veröffentlichen
Wenn du auf meinem Blog kommentierst, werden die von dir eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Mehr Infos dazu findest du in der Datenschutzerklärung von Google (https://policies.google.com/privacy).